VorwärtsEXTRA sprach mit Gernot Erler, Russlandbeauftragter der Bundesregierung, über die politische Zukunft der Ukraine.
Wie schwerwiegend ist Putins Verletzung des Völkerrechts gegenüber der Ukraine angesichts der russisch geprägten Geschichte der Krim und auch angesichts früherer Völkerrechtsverletzungen zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien von Seiten der Nato?
Eine Völkerrechtsverletzung rechtfertigt nicht die nächste! Außerdem: Der Kosovo-Krieg von 1999 sollte ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit stoppen, nämlich die Vertreibung der albanischen Kosovaren durch Miloševi ́c. Der Vergleich mit der Krim hinkt. Ein massives Vorgehen der Ukrainer gegen die russischen Krimbewohner hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Russland hat mit seiner Einverleibung der Krim eindeutig zwei Verträge von 1994 und 1997 gebrochen, in denen es die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine garantiert hat.
Ist Putins Verhalten nachvollziehbar angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Ausdehnung des westlichen Bündnisses?
In seiner Rede vom 18. März hat Präsident Putin diesen Zusammenhang hergestellt. Nicht erwähnt hat er, dass der Westen aber auch die Hand ausgestreckt hat – mit der deutsch-russischen strategischen Partnerschaft, mit derselben zwischen EU und Russland, mit dem Angebot der Modernisierungspartnerschaft, mit dem Petersburger Dialog und zahlreichen anderen funktionierenden Formen von Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe. Das alles sollte abgewogen und nicht blindlings zerstört werden!
Hat der Westen, hat Europa eine Mitverantwortung an der Entwicklung?
Es wäre besser gewesen, rechtzeitig zu klären, ob sich das westliche Integrationsangebot über das Assoziationsabkommen und die Freihandelszone mit dem russischen über Zollunion und „Eurasische Union“ verbinden lässt oder sich wechselseitig ausschließt. Erst sehr spät wurde klar, dass die ukrainische Führung vor eine schwierige Entweder-Oder-Entscheidung gestellt wurde. Für die Zukunft, auch bei den Angeboten an die anderen Länder der „Östlichen Partnerschaft“, muss diese Frage der Vereinbarkeit dringend geklärt werden.
Sind weitere Aggressionen Russlands zu erwarten, gegenüber der Ukraine und gegenüber anderen ehemaligen Sowjetstaaten?
Im Moment verneint Moskau jede weitere Interventionsabsicht, stellt aber eindeutig Forderungen an den ukrainischen Nachbarn: Neutralität als Verfassungsvorschrift und Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft. Bewusst bleibt dabei offen, was geschieht, wenn diese Forderungen nicht erfüllt werden. Auch andere Staaten wie etwa die Baltischen Republiken und das kleine Moldowa sind nachvollziehbar beunruhigt, weil die russische politische Klasse plötzlich das Thema des Schicksals der 25 Millionen Auslandsrussen hochzieht. Die gefährlichste Antwort auf diese Sorge wäre ein wechselseitiges Hochschaukeln der jeweiligen Militärpräsenz vor Ort. Auch hier kann zerstörtes Vertrauen nur über einen politischen Prozess wiederhergestellt werden.